top of page

Herbstwind im Gesicht

  • Autorenbild: Windgedanken
    Windgedanken
  • 5. Nov.
  • 4 Min. Lesezeit

Die Herbstwinde fegen mir die Haare aus dem Gesicht und machen mir das Atmen schwer. Ich breite die Arme aus, warte darauf, dass sie mich fortragen. Fort, weil ich mich hier gerade nicht richtig fühle. Ich will mich in die Wolken schwingen und nichts als die kalte Luft spüren, weil ein Teil von mir dorthin gehört.


ree

Ich mache Sport, während ich gedanklich fliege, treibe meine Muskeln bis zum Versagen, weil es das Chaos in mir besänftigt. Jede Bewegung lässt mich stärker fühlen, obwohl ich vor lauter Seitenstechen kaum Atmen kann. Ich boxe in die Luft, schlage all die Gedanken kurz und klein, die mich einsam fühlen lassen. Ich lasse nicht zu, dass mich Selbstvorwürfe überrollen, obwohl ich sie ungeduldig warten sehe. Ich höre ihr Murmeln im Hintergrund, aber sie bekommen keinen Raum. Ich schlage härter zu, ignoriere meinen Puls.  


Zu viel, zu sensibel, zu kaputt. 

Niemals stark genug.  


Ich lasse mich auf die Knie fallen und ringe um Atem. Einzelne Tränen fallen auf den Teppich unter mir und färben ihn dunkler. Zu schwach. Ich stehe auf, spüre das Brennen in den Schultern, und mache weiter. Bündle meine Gedanken, konzentriere mich nur auf das imaginäre Ziel vor meinen Augen. Ich höre Musik, die mich von Welten träumen lässt, in denen ich mich stärker fühle. Schlage zu.  


Ich weiß, dass ich nur aus der Balance geraten bin, dass ich Schlaf und Energie brauche, Ruhe und Zeit für mich. Doch gerade bin ich wütend auf den Tsunami, der mich in die Knie zwingen will. Ich bin wütend auf mich, weil ich hätte wissen können, dass das kommen würde. Ich bin wütend auf all die scheiß Themen, die mich gerade beschäftigen und die alle nicht so schlimm sind, sich aber riesig anfühlen. Ich bin wütend, weil ich mich lange nicht mehr so gefühlt habe und es sich ein bisschen nach Versagen anfühlt, jetzt wieder hier zu stehen. Wie ein Rückschritt in eine Zeit, in die ich nie zurückkehren wollte. Deshalb will ich fliegen, wegrennen vor meinen Emotionen. Ich will durch die Dunkelheit laufen, bis ich keine Angst mehr fühle.


Die Wut ebbt ab, als mich die Erschöpfung überrollt. Ich bleibe auf dem Teppich sitzen und starre das irritierend schöne Abendrot vor dem Fenster an. Zu meiner Stimmung würden eher düstere Gewitterwolken passen. Ich muss ein bisschen schmunzeln, weil sich alles so dramatisch anfühlt. Die wütende Musik im Hintergrund läuft weiter, sie hat meinen Stimmungswechsel nicht mitbekommen. Ich wähle ein anderes Lied aus. Diesmal lasse ich die Tränen laufen, weil ich weiß, dass es hilft.  


Ich versuche, Verständnis für mich zu haben, obwohl die Vorwürfe so gemein am Rand lauern. Es fühlt sich an, als wäre ich die Einzige, die davon überfordert ist, auf einen Schlag 15 neue Menschen kennenzulernen. Wie kann es sonst sein, dass nur ich nach 5 Stunden gehen wollte? Es fühlt sich an, als wäre ich die Einzige, die nach sozialen Veranstaltungen mit größeren Gruppen erstmal ein paar Tage komplett ausgeknockt ist. Vielleicht bin es aber auch nur ich, die glaubt, danach sehr schnell wieder gesellschaftsfähig sein zu müssen, nur um dann zwei Tage später komplett am Ende mit einem mental breakdown die eigene Wut rauszuboxen. Ich habe in letzter Zeit so gut mit meiner sozialen Batterie gehaushaltet und kam prima damit klar, dass sie eben begrenzt ist, und jetzt das. Überreizung und Erschöpfung.  


Es fällt mir gerade schwer, mir zu sagen, dass es okay ist. Dass es keine Rolle spielt, ob andere mit solchen Situationen anders, besser oder entspannter umgehen. Mir geht es gerade nicht gut. Allein das aufzuschreiben, fällt mir schwer, weil ich gleich wieder ein “aber das wird sicher wieder” dranhängen möchte, ein “alles gut, mir geht’s gut”, obwohl es so offensichtlich nicht stimmt. Es soll bloß niemand das Gefühl bekommen, für mich da sein zu müssen. Ich bin sehr viel besser darin geworden, um Hilfe zu bitten, aber in den Momenten, in denen ich merke, dass ich gerade einfach nicht gut mit der Situation umgehen kann, fällt es mir wahnsinnig schwer, das zu zeigen und jemanden an mich heranzulassen, mich trösten oder aufbauen zu lassen. Weil es sich wie eine Bestätigung dafür anfühlt, dass ich gerade schwach bin. Obwohl ich mir wünschen würde, dass mich jemand in den Arm nimmt und mir sagt, dass er mich mag, eben weil ich so bin, wie ich bin. Mit genau dieser Sensibilität, mit genau diesen vielen Gedanken, mit genau diesen Schwächen, die ich habe.


Im Grunde weiß ich, dass ich mit dieser Überforderung nicht allein bin. Nicht nur ich habe Schwierigkeiten in sozialen Settings, nicht nur ich verbringe gerne Zeit allein und nicht nur ich kann mit Smalltalk so wenig anfangen. Und ich bin mir sicher, dass ich auch nicht allein damit bin, dass ich nach solchen Überforderungssituationen erstmal ganz viel Routine und Sicherheit brauche, um wieder klarzukommen. Außerdem hat mir, wenn ich ehrlich bin, noch nie jemand gesagt, dass er mich nicht mag, weil ich zu introvertiert bin. Ich glaube manchmal, ich wäre cooler, wenn man mich einfach in neue Situationen reinschmeißen könnte und es läuft alles wie am Schnürchen. Wenn ich dann nach einer Stunde sehnsüchtig gen Ausgang schaue, würde ich mir gerne eine andere Haut überstreifen, eine, die das alles easy meistern würde.


Aber wenn ich im Nachhinein noch einmal darüber nachdenke, dann will ich niemand anderes sein, dann finde ich mich gut, so wie ich bin. Ich will genau die Person sein, die bei einer Party mit 15 fremden Menschen absagt, weil sie stattdessen an ihrem Buch weiterschreibt. Ich will genau die Person sein, die mit guten Freunden die krassesten Gespräche führt, aber keine lockeren Bekanntschaften hat. Ich will genau die Person sein, die sich in Musik verliert, die Schmerz in Worte packt, und im Herzen fliegen kann.








 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Kommentare


bottom of page