Heute bin ich jemand anderes
- Windgedanken

- 10. Mai 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 26. Mai 2024
Wie es uns manchmal helfen kann, für eine kurze Zeit in die Haut einer anderen Person zu schlüpfen.

Herausforderungen kennt jeder von uns. Vor allem im Vorhinein ist es manchmal schwierig, die eigenen Gedanken in Zaum zu halten, wenn sie sich um Sorgen und Bedenken drehen. Kann ich das? Will ich das wirklich? Vielleicht sollte ich lieber absagen.
Und das ist völlig okay. Es ist okay, nervös vor neuen Dingen zu sein oder sich in Situationen zu begeben, in denen man sich nicht wohlfühlt. Wer weiß, vielleicht wendet sich das Blatt nach einiger Zeit und du entdeckst eine neue Lieblingsbeschäftigung. Vielleicht aber auch nicht, dann ist es auch okay, abzusagen und nicht dabei zu sein. Ich finde, niemand muss sich künstlich in Situationen zwingen, die anderen Situationen ähneln, in denen man sich bereits nicht wohlgefühlt hat oder einfach gemerkt hat, dass es nichts für einen ist.
Aber. Es gibt Momente, in denen ist es nicht wirklich eine Frage, ob man hingeht, weil es so starke Gründe gibt, dass die eigene Präferenz einfach überstimmt wird. Wahrscheinlich kennen das die meisten im Arbeitskontext, aber manchmal geht man auch einer Freundin zuliebe mit auf dieses Konzert oder läuft mit der Tante über den Flohmarkt, auf dem es nur langweiligen Krams gibt, weil sie sich so darüber freut. Und dann? Dann merkt man kurz vorher, dass man eigentlich keine Lust hat oder es zu viel wird oder einfach grade nicht der richtige Zeitpunkt ist, aber gleichzeitig ist völlig klar, dass man hingehen wird. Was macht man dann? Augen zu und durch ist vielleicht ein beliebtes Motto, aber seien wir ehrlich, eigentlich würden wir solche Momente einfach gerne vermeiden, in denen wir nur darauf warten, dass sie vorbeigehen (Zahnarzttermine ausgenommen). Und jetzt kommt der Trick mit der zweiten Haut ins Spiel, den ich ganz am Anfang erwähnt hatte - wenn du dich noch erinnern kannst.
Die Idee ist simpel: du überlegst dir einen Charakter, eine Art Spielfigur, die das, was dir bevorsteht, so richtig gut findet. Er kann es gar nicht abwarten, dass es endlich losgeht. Denk dich so richtig in deine Figur. Was würde sie machen? Was würde sie anziehen? Wie würde sie sich fühlen und was denkt sie dabei? Merkst du etwas? Dann versuchs nochmal, aber diesmal richtig. Wenn du magst, gib ihr einen Namen. Oder ihm. Kreiere dieses Erleben in dir. Übrigens: es hilft, wenn dir dein Charakter grundsätzlich eher ähnlich ist. Dann schaut dich auch deine Freundin oder deine Tante nicht seltsam an.
Das Tolle daran ist, dass dieses Experiment nicht nur für diese eine Situation hilfreich sein kann, sondern auch in all den anderen, in denen es nicht darum geht, jemand anderes zu werden, sondern ganz du selbst zu sein, aber deine Emotionen regulieren möchtest. Denn genau das ist es im Grunde: Emotionsregulation. Du trittst einen Schritt aus dem Geschehen heraus, indem du dir deine Figur kreierst. Du versetzt dich in jemanden hinein, der du gerade gerne wärst, zumindest in Aspekten. Ähnliches lässt sich auf emotionale Situationen übertragen, in denen dich negative Emotionen - über die negativ-Konnotation lässt sich streiten, vielleicht ist hier ein eigener Beitrag fällig - übermannen und du gerade keinen Ausweg findest. In diesen Momenten hilft es, zuerst die eigene Perspektive von außen zu beobachten, um einen klareren Blick auf den Zustand zu bekommen, in dem du gerade gerne wärst. Und dann beginnst du, dich so zu verhalten, als wärst du bereits in diesem Zustand, so wie wenn du zu deiner Figur wirst. Du handelst und löst dadurch die Starre, die oft mit intensiven Emotionen einhergeht.
Warum ich sage, dass diese Parallele nur ähnlich ist? Ich halte es nicht für sinnvoll, Gefühle so zu externalisieren, dass man so tut, als würde man zu einer anderen Person werden, um sie zu fühlen. Das mag für einzelnen Momente eine praktikable Notlösung sein, aber mein persönliches Ziel ist es, meine negativen Emotionen selbst regulieren zu können. Nicht indem ich mir eine andere Person zu Hilfe hole, sondern indem ich, ich selbst die Fähigkeit zur Emotionsregulation erlange. Es mag sein, dass in dem Moment ein anderer Teil von mir aktiv wird, aber ich bleibe ich selbst.
Übrigens: wenn ich von "Teil von mir" spreche, dann beziehe ich mich dabei auf das Modell des Inneren Teams von Schulz von Thun. Einen interessanten Einblick liefert eine Arbeit von Frank G. Dutine (2020) mit dem Titel "Das innere Team–Reflexionsprotokoll einer Beratungssimulation" [Dutine_2020_Das_innere_Team-libre.pdf (d1wqtxts1xzle7.cloudfront.net)]
Emotionsregulation war für mich vor allem elementar, um mit den Erfahrungen und Überzeugungen meiner Vergangenheit umgehen zu können. Ich hatte ein bestimmtes Muster, bei dem sehr intensive Emotionen in regelmäßigen Abständen aus mir herausgebrochen sind. Im Nachhinein habe ich dann oftmals die Auslöser gesehen, doch in der Situation selbst hatte ich das Gefühl, nichts machen zu können, außer sie auszuhalten. Ich fühlte mich hilflos. Bis mir klar wurde, dass ich die ganze Zeit versuchte, meine Emotionen zu vermeiden. Ab dann versuchte ich, mit ihnen umzugehen. Nach einigen Monaten (ich glaube, es war letztendlich über ein Jahr) wurde es besser. Die Intensität ließ nach und ich kam näher an das heran, was eigentlich in mir vorging. Durch die intensive Emotionalität fiel es mir schwer, an das darunterliegende zu kommen. Die ständige Übung von Regulation, ganz viel Ausprobieren und viele Rückschläge haben aber letztendlich eine entscheidende Veränderung herbeigeführt.
Und ich bin davon überzeugt, dass ich damit nicht allein bin. Viele von uns machen Erfahrungen, die prägend sind. Oftmals sind sie mit Emotionen verknüpft, manchmal auch nur mit Emotionen. Dann kann ein (vielleicht harmlos wirkender) Reiz in der Gegenwart vergangene Empfindungen reaktivieren. Diese zu regulieren kann schwierig sein, aber es ist glaube ich der beste Weg, um irgendwann nicht mehr von vergangenen Erfahrungen eingeschränkt zu sein. Sie prägen uns so oder so, aber die damit einhergegangenen Emotionen müssen deshalb noch lange nicht unsere Reaktionen in der Gegenwart bestimmen.



Kommentare