Ich vertraue dir nicht
- Windgedanken

- 5. Mai 2024
- 4 Min. Lesezeit
Misstrauen kann ein großer Stein auf deinem Weg sein. Es ist völlig normal, dass Erfahrungen uns prägen. Es ist normal, dass wir irgendwann die kindliche Naivität und Unbekümmertheit ablegen und der Vernunft mehr Gehört schenken. Erschienen in der Kindheit Dinge als gegeben, ohne dass man auch nur darüber nachgedacht hat, macht jeder von uns Erfahrungen, die einem erst bewusst machen, über wie viel wir uns keine Gedanken gemacht haben. So wie wenn man erst versteht, was man hatte, wenn man es verloren hat.

Mit Vertrauen verhält es sich ganz ähnlich. Als Kinder vertrauen wir. Wir vertrauen darauf, dass alles schon irgendwie werden wird. Ist uns dabei bewusst, dass wir ein Grundvertrauen haben? Eher nicht, außer wir mussten schon früh in unserem Leben die Erfahrung machen, dass Vertrauen eine Illusion ist. Früher oder später machen die meisten von uns diese Erfahrung. Für manche ist es eine Illusion, für andere ein Konstrukt, für wieder andere ein Gut, nach dem sie streben.
Vertrauen kann verletzt, enttäuscht oder missbraucht werden. Die Gefühle, die damit einhergehen, fühlen sich mies an. Es kann sich anfühlen, als würde die Welt ins Wanken geraten, als wären die Säulen der Erde erschüttert worden. Wusstest du, wie sehr du vertraut hast, bevor du das Misstrauen kanntest? Die Angst davor, das noch einmal fühlen zu müssen, lässt uns Strategien entwerfen, die uns schützen sollen. Manchmal wollen wir mit der Person, die uns verletzt hat, nichts mehr zu tun haben, manchmal wollen wir die Aufmerksamkeit von genau dieser Person zurückgewinnen, und manchmal machen wir andere Personen dafür verantwortlich, was diese eine Person uns angetan hat.
Ich glaube, es gibt viele Gefühle, die sich so intensiv anfühlen, dass sie Vertrauen erschüttern können. Ganz vorne mit dabei sind Hilflosigkeit und Enttäuschung. Wenn man beispielsweise unerwartet von einem geliebten Menschen verlassen wird, werden beide Gefühle sehr laut. Dazu kommen der Schmerz des Verlusts, vielleicht auch Wut und Einsamkeit. Es werden Gefühle ausgelöst, die wir lieber nicht fühlen würden. Seelischer Schmerz kann auf verschiedenen Ebenen brutal sein. Allein das Weinen ist zermürbend. Dazu kommen trübe Gedanken, alle anderen Gefühle werden gedämpft, das Atmen fällt schwer und es verschlägt dir den Appetit. Es kann dauern, bis dieser Schmerz wieder vergeht. Und inmitten des Nebels aus intensiver Emotionalität baut sich eine Mauer, die dich genau davor in Zukunft schützen soll.
Jemand Neues tritt in dein Leben. Er ist ganz anders als die Person, die dich damals so verletzt hat. Er ist in so vielen Dingen anders. Nur gibt es jetzt diesen Teil in dir, der flüstert "Was, wenn er gar nicht anders ist? Was, wenn er geht, so wie alle irgendwann gehen werden?". Du gibst diesmal nicht alles von dir. Du vertraust, aber nicht 100%. Du liebst, aber nicht mit Haut und Haar. Du bist glücklich, aber nicht restlos. Du sammelst im Stillen Argumente, was besser wäre ohne ihn, während du nach Beweisen Ausschau hältst, dass er bleiben wird. All das ergibt für dich Sinn, weil es den Teil in dir beruhigt, der Angst vor Schmerz hat. Es ist der Teil, der zu schnell die Kontrolle übernimmt, dessen sorgenvolle Gedanken dich mitreißen, bevor dir überhaupt bewusst wird, dass eine Welle kam.
The feeling that something is unbearable is really the fear of having to experience it in the next moment in the future. *
(Das Gefühl, dass etwas unerträglich ist, ist in Wirklichkeit die Angst, es im nächsten Moment in der Zukunft erleben zu müssen.)
Die Gedanken, die wir uns in einem Moment machen, können die Situation verschlimmern oder sie neutralisieren. Der Schmerz wird vergehen. Sich dessen bewusst zu sein, ermöglicht einen anderen Umgang mit dem Schmerz, als wenn der einzige Gedanke die Befürchtung ist, dass er nie aufhört.
Das ist auch bei schmerzhaften Erfahrungen so. Solange sie präsent bleiben und der Antrieb des eigenen Handelns der Versuch ist, eine Wiederholung der Erfahrungen zu vermeiden, wird der Schmerz aufrechterhalten. Das aktuelle Verhalten wird beeinflusst von einem Schmerz, der eigentlich längst vorbei ist. Es ist bereits der Moment eingetreten, in dem er nachgelassen hat. Es erscheint sinnlos, daran festhalten zu wollen. Doch für diesen Teil in uns, der Angst hat, wird es logisch, alles daran zu setzen, gleiche Erfahrungen zu vermeiden. Aus irgendeinem Grund wird es sehr schwer, den Unterschied zwischen damals und heute zu sehen. Denn den gibt es. Es gibt einen Unterschied. Du warst damals jemand anderes als du es heute bist. Allein dass du diese schmerzhafte Erfahrung gemacht hast, verhindert bereits, dass du sie noch einmal so erleben wirst. Niemand kann zweimal in denselben Fluss steigen, wie Heraklit schon sagte. Wahrscheinlich sind auch die Menschen um dich herum andere. Die Person, die dich damals verletzt hat, kann sie dich noch einmal so enttäuschen? Oder ist es jemand anderes, von dem du die gleichen Enttäuschungen erwartest?
Es passiert niemals zweimal das gleiche. Du hast dich verändert durch all die Dinge, die du erlebt hast. Du bist stärker und erfahrener. Du bist heute nicht mehr die Person, die damals den Schmerz gefühlt hat. Also kannst du ihn heute ziehen lassen, während du die Erfahrungen behältst, die du gemacht hast. Den Schmerz gehen zu lassen, heißt nicht, ihn einzuladen, dich erneut zu treffen. Es heißt, mit der Gewissheit, dass du im Zweifelsfall mit Tiefschlägen umgehen könntest, dem Leben vertrauen.
*Suffering, Pain, Meditation & Our Thoughts | Sam Harris, https://www.youtube.com/watch?v=6FNsZJO88pI&t=264s



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