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Lass' mich allein - Introversion

  • Autorenbild: Windgedanken
    Windgedanken
  • 28. Apr. 2024
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 5. Mai 2024

Mir scheint, dass viele Menschen das Konstrukt der Introversion nicht wirklich verstehen. Sie glauben, es sei so etwas, wie "ich brauche heute mal einen Me-time Abend" oder "mir geht es heute nicht so gut". Als sei es der default, dass man dabei sein möchte.



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Ich selbst kenne nur die Perspektive des Introvertiert-Seins. Ich war es schon immer und ich merke immer wieder, dass es eben kein vorübergehender Zustand ist, sondern ein Eigenschaft. Menschen rauben mir Energie. Das ist die Wahrheit, die man akzeptieren muss, wenn man Zeit mit mir verbringen möchte. Die ich selbst immer wieder akzeptieren muss. Das heißt nicht, dass ich etwas gegen dich habe. Ich gehe nicht früher, weil ich dich nicht mag. Ich sage nicht ab, weil du mir nicht wichtig bist. Ich schweige nicht, weil ich blöd finde, was du sagst. Ich brauche einfach Zeit mit mir allein. Viel. Jeden Tag. Und trotzdem mag ich Menschen. Ich verbringe gerne Zeit mit Freunden und mag es, Gespräche zu führen. Ich mag es, neue Leute kennenzulernen und spannende Diskussionen zu führen. Aber alles in einem begrenzten Rahmen. Wenn wir schon den ganzen Tag miteinander verbracht haben, dann werde ich ziemlich sicher keine Lust mehr auf ein Abendessen haben. Wenn wir uns drei Stunden lang unterhalten haben, dann brauche ich danach nochmal drei ganz mit mir allein. Wenn ich Freunde besuche, dann immer lieber nur für eine Nacht, weil ich dann merke, wie meine Energie nachlässt. Und, auch ein ganz wichtiger Punkt, so geht es mir, egal wie gut ich dich kenne. Wenn du mir vertraut bist, dann kann ich wahrscheinlich länger Zeit mit dir verbringen, bevor ich erschöpft werde, aber früher oder später tritt es trotzdem ein.


Noch ein Fehlschluss, der vielleicht weit verbreitet ist: ich bin nicht schüchtern oder still. Ich bin kein stiller Mensch, nur weil ich introvertiert bin. Ich kann ziemlich laut sein und auch ziemlich viel reden. Ich kann diskutieren und meine Meinung deutlich äußern. Ich kann mich streiten. Aber wenn mir in der Interaktion mit Menschen die Energie ausgeht, dann werde ich still. Ich ziehe mich in mich zurück, weil nicht mehr genug Power da ist, um nach außen zu gehen. Ich verliere nicht das Interesse, ich kann einfach nicht mehr. Ich fühle mich dann erschöpft, manchmal richtig ausgelaugt. Je mehr die Interaktion meine persönliche Power-Grenze überschritten hat, desto länger brauche ich danach, um wieder klarzukommen. Manchmal kann ich dann stundenlang einfach dasitzen und vor mich hin starren. Das habe ich mal 8 Stunden lang auf einem Flug von Chicago nach Frankfurt gemacht. Ich war erschöpft von den vielen Eindrücke der USA, zuvor war noch unser Flug gecancelt worden, sodass wir umbuchen mussten und ich war einfach nur froh, endlich im Flieger nach Hause zu sitzen. Während dieses Fluges war mir überhaupt nicht langweilig. Ich saß einfach da und machte nichts. Und es war wunderbar.


Früher dachte ich, mit mir sei etwas falsch. Ich sei zu sensibel für die laute Welt um mich herum oder zu kompliziert, weil ich nicht einfach zu allem Ja sagen konnte und es mir gut damit ging. Tatsächlich ging es mir in ganz vielen Situationen nicht gut, weil ich versuchte, jemand anderes zu sein. Ich dachte, ich müsste mich nur mehr zusammenreißen oder weniger dramatisch sein oder nicht so eine Heulsuse. Aber das hat nicht funktioniert. Je mehr ich gegen mich gekämpft habe, desto schlechter ging es mir. Je mehr ich von mir erwartet habe, es genießen zu müssen, viel unterwegs zu sein, umso schlimmer fand ich es, wieder in den Zug zu steigen. Es gab Phasen, in denen ich fast jedes Wochenende unterwegs war. Ich habe noch öfter geheult.


Und obwohl ich manchmal immer noch ein schlechtes Gewissen deswegen habe, kann ich inzwischen sagen, dass es mir am besten geht, wenn ich allein bin. Das heißt nicht, dass ich nicht auch schöne Momente mit Menschen teilen kann, oder dass ich es nicht genießen würde, von Menschen umgeben zu sein, die mir wichtig sind. Aber wenn ich allein bin, fange ich an, ganz ich selbst zu sein. Ich beginne, albern zu sein, was ziemlich witzig sein kann, ich bin kreativ, höre Musik und tanze viel. Ich lache lauter, nehme mir Zeit, um zu kochen und zu backen, gehe nach draußen, stehe früh auf und mache Sport. Sobald Menschen da sind, werfe ich all diese Dinge schnell über Bord, um niemandem auf die Füße zu treten. Das ist sicher eher meinem inneren People Pleaser zu verdanken als meiner Introversion, aber es zeigt mir auch, wie gut ich mit mir selbst klarkomme. Ich fühle mich nicht schnell einsam. Ich brauche das Gefühl, dass ich theoretisch mit jemandem sprechen kann, aber für mein persönliches Wohlbefinden ist es völlig ausreichend, wenn ich mich einmal in der Woche mit einer Freundin auf einen Kaffee treffe. Ich mag es, ins Büro zu fahren und dort das Gefühl zu haben, von Kollegen umgeben zu sein, aber die Mittagspause reicht mir, um meinen Bedarf an menschlicher Interaktion zu stillen. Das wäre bestimmt auch ein bisschen anders, wenn ich nicht mit meinem Freund zusammen wohnen würde. Obwohl wir beide gut Zeit allein verbringen können, reden wir natürlich trotzdem jeden Tag.


Was ich sagen möchte: Du bist gut und richtig, so wie du bist. Das versuche ich mir selbst auch immer wieder klar zu machen. Ja, ich brauche vielleicht deutlich weniger menschliche Interaktion als der Durchschnittsmensch, damit es mir gut geht. Aber das ist völlig okay. Es gibt nicht den einen Cut-off-Wert, ab dem du als normal angesehen werden kannst. Es ist okay, jedes Wochenende allein zu Hause zu sein und es zu genießen, ebenso wie es okay ist, wenn du jeden Tag unterwegs sein möchtest und dabei am liebsten immer noch neue Menschen kennenlernen möchtest. Höre auf dich und deine Bedürfnisse. Wir sind alle verschieden und genau das macht unsere Welt so wunderbar bunt.


 
 
 

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